Wenn es um Fehlerkultur geht, habe ich oft den Eindruck, es gäbe zwei Extreme: Früher waren Fehler verpönt und schon der kleinste Ausrutscher führte zur sofortigen Kündigung. Heutzutage hingegen werden Fehler, schaut man sich mal auf LinkedIn um, glorifiziert – so sehr, dass es sogar sogenannte „Fuck-Up Nights” gibt. Gehören Fehler heute zum guten Ton? Mir scheint es, als wäre das heutige Feiern von Fehlern ein Gegenpol zu dem uralten Dogma, bloß keine Fehler zu machen. Aber das ist, in meinen Augen, einfach nur ein anderes Extrem. Darum sollte man das übermäßige Feiern von Fehlern hinterfragen.
Fehler, oder: die Wissensquelle unserer Zeit
Zugegeben: Ich habe ein paar Jahre Start-up-Erfahrung auf dem Buckel und entsprechend sieht auch meine Bubble auf LinkedIn aus. Gerade dort lese ich immer wieder das Credo: „Mach Fehler und lerne draus.” Und da stimme ich zu: Aus Fehlern lernt man. Das Kind, das auf die heiße Herdplatte patscht, lernt seine Lektion. Ich lerne meine Lektion, wenn mir in einem Text ein Rechtschreibfehler unterläuft. Oft habe ich allerdings das Gefühl, als müsste man Fehler machen, um dazuzulernen – fast so, als wären Fehler die einzige Lernquelle. Und das ist (und das würde ich auch sagen, wenn ich nicht bei einer Bildungsakademie arbeiten würde), großer Unfug. Auch wenn aus Fehlern großartige Erfindungen entstanden sind, siehe die Entdeckung von Penicillin.
Wie geht Fehlerkultur ohne Verständnis von „Fehler”?
Was mich noch mehr stört, ist, dass man kaum thematisiert, was ein Fehler überhaupt ist. Mir gefällt der Erklärungsansatz von Aristoteles. Dieser unterscheidet zwischen Unglück, Fehler und schlechtem Tun. Ein Unglück passiert unvorhersehbar und ohne böse Absicht – beispielsweise, wenn mein brandneuer Laptop abstürzt und ich diesen Text vorher nicht gesichert habe. Ein Fehler ist hingegen zwar nach Sokrates vorhersehbar, geschieht aber ebenfalls ohne böse Absicht. Dass mir in diesem Text ein Rechtschreibfehler unterläuft, ist vorhersehbar, aber ich mache es nicht mit Absicht. Schlechtes Tun ist mit all seinen negativen Folgen vorhersehbar und geschieht mit voller Absicht.
Wenn Fehler verharmlost werden
Ich muss da direkt an Fynn Kliemann und seine Maskenaffäre aus dem Jahr 2022 denken. Abgesehen von den Vorwürfen, mangelhafte Masken an Geflüchtete abzugeben oder hinsichtlich der Produktion gelogen zu haben: Fynn Kliemann hatte einst behauptet, die Masken, die er in einem großen Online-Shop verkauft hatte, seien zum Selbstkostenpreis zu erwerben. Im Nachhinein kam allerdings heraus, dass er mit dem Maskenverkauf einen Gewinn von über 415.000 Euro gemacht hat. Und ein paar Monate später zierte Fynn Kliemann das Cover der Zeitschrift Business Punk, darauf unter anderem die Worte: „Erst Mega-Fuck-Up, jetzt der Reset”. Meiner Meinung sorgt gerade der Begriff Fuck-Up für eine Verharmlosung dessen, was sich Fynn Kliemann allein mit dem Verkauf der Masken geleistet hat. Das ist weder ein Fehler noch ein Fuck-Up, sondern ganz bewusste Täuschung, um sich selbst zu bereichern. Oder fällt ein Plus von über 415.000 Euro auf dem Konto wirklich nicht auf?
Fehler ≠ Fehler
Was mir in der heutigen glorifizierten Fehlerkultur auch auffällt: Es wird kaum differenziert in der Schwere des Fehlers. Das sieht man ganz gut an dem Beispiel von Fynn Kliemann und seinem „Fuck-Up”, aber auch die ganzen CEOs und Unternehmer*innen auf LinkedIn machen kaum Unterschiede. Mein Tippfehler mag zwar unnötig sein, aber mir nicht den Job kosten. Stattdessen werde ich beim nächsten Mal selbst genauer hinsehen oder meinen lieben Kollegen ums Gegenlesen bitten. Aber es gibt auch Fehler, die schwerer wiegen. Stellen wir uns einen Chirurgen vor, dem ein Fehler in einer Routineoperation unterläuft und die Patientin verstirbt. Ich möchte damit nicht einen Tippfehler mit einem verlorenen Menschenleben gleichsetzen – aber genau darum geht es mir: Ein Fehler ist nicht gleich ein Fehler. Und ich frage mich: Wird ein Behandlungsfehler auch gefeiert, als gäbe es kein Morgen mehr? Schreibt dieser Arzt einen ausschweifenden Text und postet ihn auf LinkedIn und geht fröhlich seines Weges weiter? Und: Würde ich mich von diesem Arzt operieren lassen? Würdest du? Ich weiß es nicht. Oder wie sieht’s aus, wenn ein CEO sich heftig verkalkuliert und er zig Mitarbeitende entlassen muss – müssen die Neu-Arbeitslosen ihren ehemaligen Chef abfeiern? Ich würde das nicht tun. Denn ich bin mir sicher: Nicht bei jedem Fehler müssen wir Freudensprünge machen.
Warum Fehlerkultur uns so schwer fällt
Einen letzten Gedanken möchte ich noch mit dir teilen – nämlich die psychologische und gesellschaftliche Seite von Fehlern. Auf LinkedIn liest es sich immer so easy: „Ich habe einen Fehler gemacht und daraus diese 10 Dinge gelernt …”. Ich frage mich dann: Ist das wirklich so easy? Denn was ja der erste Schritt ist, um aus einem Fehler eine Lehre zu ziehen, ist, sich den Fehler einzugestehen und als solchen anzuerkennen. Und das kann sehr schwierig sein und tut weh. Denn wir erkennen dann, dass das Idealbild, das wir von uns haben, nicht mit der Realität vereinbar ist. Dazu kommt, dass Fehler oft mit unserem Selbstwert zusammenhängen. Machen wir einen Fehler, denken wir vermeintlich, weniger wert oder ein*e wenige*r gute*r Mitarbeiter*in zu sein. Und was passiert dann? Oft suchen Menschen einen Sündenbock und geben die Verantwortung ab – einfach, um sich und den eigenen Selbstwert zu schützen. Ich vermute, dass das unter anderem an dem perfektionistischen Anspruch liegt, den viele von uns haben. Und dieser wird uns ja schon in der Schule vermittelt: Machst du einen Fehler zu viel im Test, bekommst du eine schlechtere Note, einen schlechteren Abschluss und nicht die Zulassung fürs Wunschstudium beispielsweise.
Fehlerkultur dank psychologischer Sicherheit
Darüber hinaus macht sich, wer anderen gegenüber Fehler eingesteht, verletzlich, was häufig mit Gefühlen wie Scham verbunden ist. Was wir brauchen, ist nicht nur die Reflexion über unseren Perfektionismus – sondern auch ein Arbeitsumfeld und ein Team, in dem man weich fällt, wenn man etwas falsch macht. Ein Begriff, der in diesem Kontext gerne genannt wird, ist psychologische Sicherheit. Die kann geschaffen werden, indem man innerhalb des Teams offen über schambehaftete Dinge sprecht – und wenn eine*r als verletzliches Vorbild voranschreitet. Ist das die Führungskraft, umso besser. Wenn meine Teamleitung sich mir gegenüber traut zu sagen: „Ich habe einen Fehler gemacht”, dann wird mir damit etwas Wertvolles vorgelebt und ich traue mich vermutlich auch eher, über eine falsche Handlung oder Entscheidung meinerseits zu sprechen.
Wie eine offene Fehlerkultur aussehen könnte
Ich bin nicht gegen eine Fehlerkultur – aber für eine reflektierte Fehlerkultur, in der Fehler mehr sind als ein Anlass zum Feiern. Wenn ich meine Beobachtungen zur Fehlerkultur mal zusammenfasse, dann würde ich mir gerade in der Arbeitswelt und von Unternehmen folgende Sachen wünschen:
Toxische Fehlerkultur | Positive Fehlerkultur |
jemanden zum Sündenbock machen | reflektieren, wie es zum Fehler kommen konnte |
Stigmatisierung von Schamgefühl | Gefühlslage nach Fehler fragen erfragen |
Fehler abfeiern | Gespräche über unangenehmen Gefühle im Team führen |
Bloßstellung und Lächerlichmachen vor großer Runde | für vertraute Gesprächssituation unter vier Augen sorgen |
Klar, es ist nicht einfach, eine solch positive Fehlerkultur zu etablieren. Denn sie braucht vor allem Vertrauen – und Vertrauen aufzubauen kostet Zeit. Und Zeit ist etwas, das sich gerade junge Unternehmen, die schnell skalieren wollen, selten nehmen. Dabei ist es so wichtig, insbesondere, um Mitarbeitende ans Unternehmen zu binden oder einfach, um ein guter Arbeitgeber zu sein.
Was mir in meiner Arbeitserfahrung auch schon begegnet ist: Viele Führungskräfte denken, Gefühle hätten in der Arbeitswelt nichts verloren. Aber meine These: Man kann nicht von Fehlerkultur sprechen, ohne auch über Emotionen zu sprechen.
Allerdings ist mir auch klar, dass Gefühle alleine keine gesunde Fehlerkultur ausmachen. Dafür braucht es auch soft und hard Skills. In Weiterbildungen wie Agile Leadership oder Design Thinking werden moderne Führung und kreative Problemlösung behandelt – beides essentiell wichtig auf dem Weg zu einer offenen Fehlerkultur.
verfasst von Herdis Monje